Pressemitteilung Universität Heidelberg
08.02.2024
Physiker aus Heidelberg, den Niederlanden und der Schweiz sowie den USA ermitteln neuen Wert für die Neutronenhaut von Blei-208
Messdaten aus Kollisionen schwerer Ionen können Aufschluss über die Neutronenverteilung in Atomkernen geben. Das hat ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Giuliano Giacalone vom Institut für Theoretische Physik der Universität Heidelberg nachgewiesen. Die Wissenschaftler verwendeten Daten aus Teilchenkollisionen im Large Hadron Collider des europäischen Forschungszentrums CERN in Genf (Schweiz), um daraus die Neutronenhaut des Blei-Isotopen 208 zu ermitteln. Nach Angaben von Dr. Giacalone ermöglicht es dieser neue Forschungsansatz, die Verteilung von Neutronen in Atomkernen systematisch zu bestimmen.
Protonen und Neutronen, die Bausteine von Atomkernen, interagieren mittels der Starken Wechselwirkung, auch bekannt als Kernkraft. Dabei handelt es sich um eine der vier Grundkräfte im Standardmodell der Teilchenphysik, auf die eine Vielzahl von Phänomenen zurückgeht – von der Form der Atomkerne bis zu den Eigenschaften der exotischen Materie, aus der Neutronensterne bestehen. Diese Wechselwirkungen mithilfe fundamentaler Theorie zu berechnen, ist sehr schwierig, wie Dr. Giacalone erläutert. Während die Wissenschaft eine gute Vorstellung davon hat, wie die Protonen in Atomkernen verteilt sind, ist es ungleich schwerer, die Verteilung der Neutronen zu bestimmen. Aufschluss darüber kann die Dicke der sogenannten Neutronenhaut geben, eine Hülle aus überschüssigen Neutronen, die sich an der Oberfläche von besonders schweren Atomkernen wie Blei-208 ansammelt.
„Indem wir die Ausdehnung der Neutronenhaut bestimmen, wollen wir zu einem besseren Verständnis neutronenreicher Materie und der physikalischen Kräfte gelangen, denen sie unterliegt“, erklärt Dr. Govert Nijs vom Massachusetts Institute of Technology (USA), einer der Kooperationspartner in dem internationalen Forschungsteam. Blei-208 eignet sich besonders gut für solche experimentellen Untersuchungen, weil es reich an Neutronen ist, einen einfachen sphärischen Aufbau hat und in der Natur leicht zu finden ist. Frühere Experimente haben bereits einen bestimmten Wert für die Ausdehnung dieser Hülle aus überschüssigen Neutronen ergeben, eine unabhängige Bestimmung aus Experimenten in Teilchenbeschleunigern gab es bisher jedoch nicht. Mit den Datensätzen aus den Kollisionen von Blei-Ionen konnten die Wissenschaftler nun einen Vergleichswert schaffen, der auf den starken Wechselwirkungen von Quarks und Gluonen bei hohen Energien beruht.
Im weltgrößten Teilchenbeschleuniger LHC werden Blei-208-Kerne gezielt zur Kollision gebracht, um das sogenannte Quark-Gluon-Plasma zu reproduzieren. Dabei handelt es sich um einen Urzustand von Materie, in dem sich Quarks und Gluonen, zwei Arten von Elementarteilchen, frei bewegen, ungefähr so wie einige Momente nach dem Urknall. Die Neutronenhaut von Blei-208 beeinflusst nicht nur die Kollisionsrate der Partikel, sondern auch die Anzahl, den durchschnittlichen Impuls und die Verteilungswinkel der durch die Kollision entstehenden neuen Teilchen. Mithilfe der Bayesschen Inferenz – eine Methode zur Ermittlung von theoretischen Modellparametern bei gegebenen experimentellen Beobachtungen – gelang es den Physikern, Rückschlüsse auf den Gesamtradius des Atomkerns sowie auf die Radien der Protonen- und Neutronenverteilung zu ziehen. Aus ihrer Differenz ergibt sich für die Neutronenhaut von Blei-208 ein Wert von 0,217±0,058 Femtometern.
„Unser Ergebnis beruht ausschließlich auf bereits existierenden Datensätzen; somit kann es in Zukunft verbessert werden und ernsthaft mit anderen experimentellen Befunden konkurrieren“, sagt Dr. Wilke van der Schee, der an der Universität Utrecht (Niederlande) und am Forschungszentrum CERN tätig ist. Künftige Messungen von Observablen, die einen genaueren Blick auf die Neutronenverteilungen bieten, könnten dazu beitragen, die Genauigkeit der Bestimmung der Neutronenhaut anhand der LHC-Daten zu verbessern. Davon erhoffen sich die Wissenschaftler nicht nur ein besseres Verständnis neutronenreicher Materie, sondern indirekt auch Einblicke in das Verhalten der Starken Wechselwirkung.
Auf Heidelberger Seite waren die Arbeiten Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereich 1225 „Isolierte Quantensysteme und Universalität unter extremen Bedingungen“ (ISOQUANT). Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Physical Review Letters“ veröffentlicht.
Originalpublikation
G. Giacalone, G. Nijs, W. van der Schee: Determination of the Neutron Skin of 208Pb from Ultrarelativistic Nuclear Collisions. Physical Review Letters 131, 202302 (15 November 2023).
DOI: 10.1103/PhysRevLett.131.202302
Kontakt
Dr. Giuliano Giacalone
Institut für Theoretische Physik
Philosophenweg 16, 69120 Heidelberg
giacalone@thphys.uni-heidelberg.de